Pioniernutzungen erproben im Kleinen, was später im Großen weitergeführt werden soll. Im Bild: Haus der Statistik, Berlin. Foto: Raquel Gómez Delago
Stadtplanung ist eine politische Praxis, in der immer auch Fragen der Verteilung und Gerechtigkeit verhandelt werden.1 Ein leer stehendes Gebäude ist daher nicht nur ein Symptom des Scheiterns des Marktes, sondern auch ein Hinweis darauf, welche Kräfte in der Stadt wirken: Wer besitzt die Liegenschaft, wem gehört der Boden? Wer bestimmt über seine Nutzung? Wie viel Geld muss ein Quadratmeter abwerfen, nach wie vielen Jahren muss sich eine Investition amortisieren? Wer entscheidet, welche Räume öffentlich zugänglich sind und welche im Verborgenen bleiben? Und wie lässt sich Raum so gestalten und organisieren, dass durch und in ihm Gemeinwohlorientierung, Leistbarkeit und Vielfalt entstehen?
Mit dem vorliegenden Essay möchte ich einladen, Leerstand nicht als Problem, sondern als Ressource zu begreifen. Klar, Leerstand fordert uns heraus – planerisch, politisch und oft auch finanziell. Anders gesagt: Er verlangt nach Fantasie, nach Haltung, nach tragfähigen Konzepten. Und vor allem verlangt er nach einer kollektiven Reflexion darüber, was wir als Gesellschaft mit diesen Räumen anstellen wollen. Das gilt für untergenutzte Kirchen genauso wie für ehemalige Universitäten oder leerstehende Bürogebäude. Dabei ist die Frage nicht nur technischer Natur, sondern auch eine politische Entscheidung. Es geht darum, Räume mit neuen, oftmals ungewohnten Funktionen zu füllen und sie nicht der Beliebigkeit des Marktes oder dem Verfall preiszugeben.
Berlin: Fallstudie Haus der Statistik
Um zu verstehen, welche Ansätze hierfür geeignet sind, lohnt ein kurzer Blick über die Landesgrenze hinaus nach Berlin. Seit 2015 entsteht mitten in der deutschen Hauptstadt das Quartier Haus der Statistik: ein Modellprojekt gemeinwohlorientierter Stadtentwicklung, getragen von einer Koalition aus Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand.
Ausgangspunkt war ein leer stehender ehemaliger DDR-Verwaltungsbau in bester Lage. Nach dem Scheitern von Verkaufsplänen des Bundes markierte eine künstlerische Intervention den symbolischen Beginn einer neuen Entwicklung. Schnell entstand eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung, die sich für eine alternative Nutzung des Areals starkmachte. Die „Initiative Haus der Statistik“ gewann den Bezirk und später auch das Land Berlin für ein alternatives Entwicklungsmodell. Die zentralen Hebel: Erwerb des Areals durch das Land Berlin und Entwicklung durch die KOOP5, einen projektbezogenen Zusammenschluss von fünf Partner*innen aus Verwaltung (Bezirk, Senatsverwaltung, landeseigenem Immobilienmanagement, landeseigener Wohnungsbaugesellschaft) und der organisierten Stadtgesellschaft (ZUsammenKUNFT Berlin eG – gegründet aus der Initiative Haus der Statistik), die auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Gemeinsam wird ein Umfeld geschaffen, das nicht den klassischen Mechanismen der Marktlogik folgt, sondern auf Koproduktion, Beteiligung und gemeinschaftlicher Verantwortung beruht. So können langfristig gesicherte Räume für Kunst, Kultur, Soziales, Bildung, bezahlbares Wohnen und Verwaltungsnutzungen entstehen.
Prozessarchitektur, Planung, Steuerung, Mitwirkung, Pioniernutzungen und die langfristige Trägerschaft erfolgen in geteilten Verantwortlichkeiten – ein Modell, das weit jenseits von klassischen Beteiligungsverfahren agiert. Intermediäre Strukturen wie die „Werkstatt Haus der Statistik“ sorgen für kontinuierlichen Austausch, Abstimmung und Aushandlung zwischen Verwaltung, Planung und Zivilgesellschaft. Sogenannte Pioniernutzungen, wie offene Werkstätten, Bildungsangebote und Kulturproduktionen, erproben schon während der Planung und Sanierung der Bestandsgebäude im Kleinen, was später im Großen entstehen soll.
Die städtebauliche Entwicklung des Quartiers wurde 2018 in einem offenen, kooperativen Werkstattverfahren gemeinsam definiert. Die angestrebte Nutzungsmischung wird dabei nicht dem Markt überlassen, sondern aktiv kuratiert. Zunächst durch eine politische Setzung des Nutzungsmix, der sowohl den Raumbedarfen der kommunalen Verwaltung als auch dem kollektiv erarbeiteten Nutzungskonzept der Initiative Haus der Statistik Rechnung trug. Mittlerweile durch eine aus dem Prozess heraus gegründete Genossenschaft – die „AndersMachen eG“ –, in der die ersten langfristigen Nutzer*innen für Räume für Kunst, Kultur, Soziales und Bildung zusammenkamen. Die Genossenschaft betreibt später u. a. einen Großteil der Erdgeschosszonen; ein kürzlich gegründeter Quartierverein bespielt zusammen mit der Wohnungsbaugesellschaft die Freiflächen im Quartier. Diese gemeinschaftlichen Trägerstrukturen sorgen dafür, dass die Verantwortung für eine lebendige Erdgeschosszone und den öffentlichen Raum geteilt wird.
Stadt als Gemeingut: Boden, Ressourcen, Entscheidungen
Die Praxis der Höchstgebotsverfahren, wie sie in vielen Städten üblich ist, zementiert bestehende Machtverhältnisse: Wer viel zahlt, bekommt den Zuschlag – nicht, wer das beste Konzept für die Stadtgesellschaft vorlegt. Was das Haus der Statistik exemplarisch zeigt: Stadt ist ein Gemeingut und muss entsprechend organisiert werden: Boden wird nicht verkauft, sondern im Erbbaurecht vergeben. Entscheidungsprozesse werden nicht nur partiell geöffnet, sondern Verantwortung strukturell geteilt. Und auch Geldflüsse, bauliche Ressourcen, Zeit und Wissen zirkulieren in neuen Bahnen. Genossenschaften bringen Eigenkapital ein und bieten den Rahmen für eine kollektive Trägerschaft. Empowerment heißt hier, dass Strukturen geschaffen werden, die Machtverhältnisse aktiv verändern und so das Gemeinwohl jenseits des Ausgangs von Wahlen und Budgetkürzungen im Haushalt langfristig sichern.
Wien: Instrumente der Aktivierung
Auch in Wien stellt sich die Frage, wie Leerstand gemeinwohlorientiert aktiviert werden kann – sei es bei der alten Wirtschaftsuniversität, bei leerstehenden Ladenlokalen oder in ungenutzten Bürogebäuden. In Wien, wie in vielen anderen Städten, gibt es bereits Ansätze, Leerstand gezielt zu nutzen, aber diese Bemühungen sind häufig fragmentiert und nicht ausreichend systematisiert. Die Transformation von Leerstand erfordert eine klare politische Vision und entsprechende Instrumente, die über kurzfristige technische Lösungen hinausgehen.
Eine Politik der Leerstandsaktivierung muss mehr leisten als die bloße Verwaltung von ungenutztem Raum. Es geht darum, den Leerstand als Teil einer umfassenderen städtischen Entwicklung zu begreifen. Dies erfordert einen Paradigmenwechsel: weg von der reinen Flächenverwertung hin zu einer langfristigen, gemeinwohlorientierten Nutzung. Hierfür sind passgenaue Instrumente erforderlich, die Leerstand nicht nur verwalten, sondern transformieren.
Dazu gehört ein entsprechender politischer Wille, um bereits vielfach erprobte Ansätze in die Fläche zu bringen: Konzeptvergaben als Standard, Anhandgaben zur Aufgleisung der Projekt- und Finanzierungsstruktur, Erbbaurechte zur Sicherung, Unterstützung bei der Fördermittelakquise und Public-Civic-Partnerships als Trägerstrukturen, die langfristig das Gemeinwohl sichern. Statt Zwischennutzungen zur kurzfristigen Aktivierung einzusetzen, sollten Pioniernutzungen als Teil einer prozessualen Planung etabliert werden. Denn die weit verbreitete Praxis der Zwischennutzungen ist lediglich eine symptomatische Reaktion auf tiefere strukturelle Probleme im Umgang mit Leerstand. Zwischennutzungen als temporäre Lösungen adressieren oft die zugrunde liegenden politischen und wirtschaftlichen Ursachen von Leerstand nicht.2
Genossenschaftliche Partnerschaften können auch in Wien Verantwortung binden, Vielfalt ermöglichen und Gebäude im gemeinschaftlichen Eigentum halten. All das braucht Zeit, Beratung, externe Moderation – und eine Kultur der Kooperation. Die Umnutzung leer stehender Gebäude wie dem Haus der Statistik zeigt: Transformation gelingt, wenn man Räume öffnet, statt sie zu schließen oder gar abzureißen.
Zugleich bieten auch das österreichische Planungsrecht und aktuelle Empfehlungen aus dem deutschen Raum3 Handlungsspielräume, um Leerstände strategisch zu aktivieren:
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intermediäre Plattformen schaffen, die zwischen Verwaltung, Zivilgesellschaft und Planung vermitteln – zum Beispiel eine städtisch getragene Leerstandsagentur
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Leerstandsmonitoring etablieren für eine systematische Projektentwicklung
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Einführung von Zweckentfremdungsverboten und einer Leerstandsabgabe
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Widmungen gezielt für gemeinwohlorientierte Nutzungen festlegen
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Vertragsraumordnung nutzen, um soziale Infrastruktur abzusichern
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Erdgeschossnutzungen für soziale Zwecke/öffentlichen Zugang im Bebauungsplan festschreiben
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Erbbaurechte für gemeinnützige Träger vergeben
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Anhandgaben ermöglichen, um Projekte in die Erprobung zu bringen
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Pioniernutzungen strategisch fördern, nicht nur Zwischennutzungen tolerieren
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Kooperationen mit Stiftungen, Genossenschaften und zivilgesellschaftlichen Netzwerken stärken
Wien könnte durch Kombination dieser rechtlichen, planerischen und strategischen Instrumente einen Rahmen schaffen, der Leerstand nicht nur reduziert, sondern transformiert – hin zu offenen Orten der Begegnung, der sozialen Innovation und der demokratischen Teilhabe.
Stadt als lernende Praxis
Das Beispiel des Hauses der Statistik in Berlin zeigt, wie Leerstand in lebendige Infrastrukturen verwandelt werden kann, wenn Verwaltung, Politik und Stadtgesellschaft neue Allianzen eingehen. Diese Transformation sollte nicht als Ausnahme, sondern als neue Normalität verstanden werden. Es geht darum, die Stadt als lebendigen Organismus zu begreifen, der sich kontinuierlich weiterentwickelt und anpasst. Die Öffnung von Leerständen für innovative Nutzungsmischungen, die Förderung von kreativen und sozialen Projekten sowie die Etablierung neuer Beteiligungs- und Governance-Strukturen sind dabei entscheidende Elemente. In Wien könnte dieser Prozess durch die konsequente Anwendung der beschriebenen Instrumente und durch eine Kultur der Kooperation und der strukturierten Koproduktion vorangetrieben werden. Nicht zuletzt braucht es auch in Wien einen politischen Willen, städtisches Eigentum nicht nur als Vermögenswert, sondern als kulturelle und soziale Infrastruktur zu begreifen – und damit als Instrument aktiver Stadtgestaltung. Denn der Umbau der Stadt zur sozial gerechten, klimagerechten und resilienten Stadt der Zukunft braucht genau diese Räume – und den Mut, sie anders zu denken.
1 Gabu Heindl: Stadtkonflikte. Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung, Wien: Mandelbaum 2020.
2 Vgl. Gabu Heindl: Ich wünsche mir 200.000 Anfragen, in: MALMOE 77, online malmoe.org/archiv/artikel/funktionieren/3248.html?utm_source=chatgpt.com (22.02.2017, abgerufen am 16.04.2025).
3 Die Plattform Region gestalten empfiehlt z. B. klare rechtliche Rahmenbedingungen, Erfassungsinstrumente und finanzielle Anreize – etwa in Form von Leerstandsabgaben, wie sie in Teilen Österreichs bereits existieren: Potenzial Leerstand: Wohnraum schaffen, in: www.region-gestalten.bund.de/Region/DE/Potenzial_Leerstand/ potenzial-leerstand_node.html (abgerufen am 16.04.2025).