Interaktive Führung mit der Raumstation durch das Areal der Alten WU. Foto: Kollektiv Raumstation
Die Alte Wirtschaftsuniversität (WU) soll nach nur 45 Jahren Nutzung abgerissen werden. Nach dem Auszug der WU im Jahr 2013 wurde sie zunächst von weiteren Universitäten als Ausweichquartier genutzt. Seit 2022 ist hier eine lebendige Zwischennutzungslandschaft aus Kunst, Kultur, Bildung und Sozialem entstanden, die das Potenzial des Areals aufzeigt. Dieses Potenzial gilt es zu nutzen, statt mit einem Abriss nicht nur bauliche, sondern auch soziale und kulturelle Ressourcen zu zerstören.
Die Alte WU soll abgerissen werden. Der 1982 fertiggestellte Riese, der den Idealen seiner Zeit entsprechend geplant und gebaut wurde, wird heute als nicht mehr zeitgemäß wahrgenommen und soll nun einem „neuen, topmodernen Bildungscampus“1 von BOKU, Universität Wien und Bundesschulen weichen.
Der Komplex ist Teil einer 5,8 Hektar großen Überplattung der Gleisanlagen auf dem Franz-Josefs-Bahnhof im 9. Wiener Gemeindebezirk. Dort entstand ab 1975 das Universitätszentrum Althanstraße (UZA), dessen letzte Teile 1995 fertiggestellt wurden und auch weiterhin von der Universität Wien genutzt werden. Andere Teile des Areals wurden bereits in den vergangenen Jahren umgebaut. So wurde etwa ein Teil der Universitätsgebäude (UZA 4) zum Arbeits- und Sozialgericht umgebaut, während vom angrenzenden Postgebäude bis zum Franz-Josefs-Bahnhof selbst im frisch sanierten „Francis“ mittlerweile teuer gewohnt werden kann. Gegenstand der aktuellen Planungen ist das UZA 1, bestehend aus dem markanten ehemaligen Hauptgebäude der Wirtschaftsuniversität sowie dem Biologiezentrum der Universität Wien.2
Die Alte WU: von der Universität zum Multifunktionsraum
Im Jahr 2013 zog die Wirtschaftsuniversität auf ihren neuen Campus am Rande des Wiener Praters. Die Verfügbarkeit der riesigen, zentral gelegenen Fläche kam vielen Institutionen zugute, die nach Ausweichstandorten während Sanierungsarbeiten suchten. So wurde das Areal nach dem Auszug der WU durch die Universitäten BOKU, TU Wien und Akademie der bildenden Künste weitergenutzt. Bis heute befindet sich etwa das Institut für Konservierung-Restaurierung der Akademie dort. Zeitweise stand sogar im Raum, dass das Parlament während der Sanierung des Gebäudes auf dem Ring in die Alte WU übersiedeln könnte.3 Kleinteiliger wurde die Nutzung nach dem Auszug der Akademie: Ein Teil der Räumlichkeiten wird nun im Auftrag der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG) durch die Zwischennutzungsagentur WEST an Kreative und im Kulturbereich Tätige vermietet. Rund 50 bis 60 Büros, Ateliers und Tonstudios werden längerfristig an Einzelnutzer*innen, Vereine und Kollektive vermietet.4 Dazu kommen etwa zehn Veranstaltungsräume unterschiedlicher Größe.5
Heute sind unter dem Dach des Areals so viele verschiedene Nutzungen versammelt, dass es schwerfällt, den Überblick zu behalten – jedes Mal, wenn man sich über das Areal bewegt, stößt man auf etwas Neues. Die Nutzer*innen zeigen, was die Alte WU abseits ihres ursprünglich intendierten Zwecks leisten kann. Das Arashi Collective beweist etwa, dass ein Hörsaal nicht nur ein Hörsaal, sondern auch ein Tanzstudio sein kann. Seit etwa einem Jahr nutzt das Kollektiv den flachen, nahezu quadratischen Hörsaal 5. Stühle raus, Tanzboden rein – und schon können die Kurse und Workshops beginnen.
Das Potenzial des ehemaligen Gewächshauses im Biologiezentrum erkannte eine frühere Biologiestudentin, die sich für die Arbeitsgemeinschaft Papageienschutz engagiert. Sie sah im Leerstand die Chance für einen innerstädtischen Standort des vormals in Vösendorf gelegenen Papageienschutzzentrums. Heute leben dort über 200 Papageien und Sittiche. Als Verein, der auf Spenden und ehrenamtliche Arbeit angewiesen ist, profitiert die ARGE Papageienschutz enorm von der Lage mitten in der Stadt.
Das RAUM Café im 1. OG ist zu einem zentralen Treffpunkt für alle Nutzer*innen geworden. Die Einrichtung gestaltete joyjoy studio, ein junges Architektenduo, das sein Büro in der Alten WU hat, aus übrigen Möbeln aus dem Fundus der WU.6
In der ehemaligen Mensa befindet sich ein selbstorganisiertes Kulturzentrum, initiiert und koordiniert vom Verein 4lthangrund, der zuletzt für seine Arbeit mit dem Preis der freien Szene Wien der IG Kultur Wien ausgezeichnet wurde.7 Heute sind dort über 35 Initiativen zuhause, die gemeinsam Raum für zivilgesellschaftliche, kulturelle, künstlerische, soziale und aktivistische Anliegen schaffen. Die 1.800 m² große Mensa war für eine einzelne Gruppe schwer allein zu bespielen, weshalb hier eine auf den Raum angepasste Organisationsstruktur entstand, die die individuellen Platzbedürfnisse von Gruppen und Einzelpersonen koordiniert.
Unterhalb der Überplattung werden auch weiterhin die Lagerhallen des ehemaligen Frachtenbahnhofs genutzt – unter anderem von den juicebrothers, die einen Getränkegroßhandel für Produkte unabhängiger Unternehmen betreiben.
Und auch als Filmset wird die Alte WU regelmäßig genutzt – besonders geeignet ist sie als Polizeirevier, Krankenhaus oder natürlich Universität.
Dies sind alles Beispiele von Nutzer*innen, die auf kreative Weise die Möglichkeiten des konkreten Bestands in seinem jetzigen Zustand ausloten. Der Dialog zwischen Nutzer*innen und Gebäude führt teils zu Eigenartigem – aber auch zu Einzigartigem. Die derzeitigen Entwicklungspläne der BIG8 folgen jedoch der entgegengesetzten Logik: Von einem abstrakten und hoch spezifischen Raumbedarf der Universitäten ausgehend, blicken sie auf die Alte WU – und stellen fest, dass dieses Programm darin nicht umsetzbar ist.
Zwischennutzung: vom Störfaktor zum Lückenfüller
Zwischennutzungen galten noch in den 1990er-Jahren als Ausdruck widerständiger Praxis: Leer stehende Gebäude wurden besetzt, Aneignung fand meist informell und außerhalb institutioneller Prozesse statt. Sie war Teil alternativer Lebensentwürfe und wurde von der Stadtplanung eher als Störfaktor denn als Ressource wahrgenommen.9 Heute ist Zwischennutzung ein anerkanntes Instrument der Stadtentwicklung: Statt nur geduldet oder bekämpft zu werden, werden solche Projekte offiziell gefördert, mitgetragen oder sogar initiiert. Diese Veränderung markiert einen Paradigmenwechsel in der Planungspraxis – was früher Randerscheinung war, ist heute Teil offizieller Verfahren.
Ausgehend davon, wie sich Zwischennutzungen über die Jahre entwickelt haben, möchten wir zeigen, dass dieses Instrument noch weiter gedacht werden kann. Die Alte WU beweist, welchen Wert Zwischennutzung für die gesamte Stadt haben kann – die Weiterentwicklung dieser Zwischennutzung könnte tatsächlich als Leuchtturmprojekt verstanden werden.
Wo einst eine monofunktionale Universitätsnutzung stattfand, ist heute ein vielfältiges Ökosystem entstanden – getragen von Akteur*innen aus Kultur, Wissenschaft, Logistik, Aktivismus und Zivilgesellschaft. Die Räume stehen aufgrund geringer Nutzungskonkurrenz zu nicht marktüblichen Konditionen zur Verfügung – ein entscheidender Faktor, der viele Nutzungen überhaupt erst ermöglicht. In zentraler Lage entsteht so leistbarer Raum, den viele Gruppen sonst niemals bespielen könnten.
Diese besondere Ausgangslage schafft Spielräume – für neue Praktiken, für kreative Formen im Umgang mit räumlichen und zeitlichen Restriktionen. Zwischennutzung wird so zum Labor für alternative urbane Zukünfte und eröffnet einen echten Experimentierraum. Die hohe Durchmischung der Nutzer*innen und das breite inhaltliche Spektrum öffnen das Areal für neue Besucher*innen – etwa durch Ausstellungen, Workshops, Kurse oder Screenings. Gleichzeitig entstehen durch die gemeinsame Flächennutzung Synergien, Netzwerke und partizipative (Verhandlungs-)Prozesse, die langfristig zur lokalen Infrastruktur beitragen.
Langfristig ist hier ein zentrales Stichwort. So viele Chancen Zwischennutzungen auch eröffnen – ihre zeitliche Begrenzung bringt grundlegende Herausforderungen mit sich. Es herrscht breiter Konsens darüber, dass kreative Orte essenziell für lokale Infrastrukturen und ein lebendiges, vielfältiges Stadtleben sind. Doch gerade dort, wo Kreativität gedeihen soll, wird die Prekarität vieler im Kunst- und Kulturbereich Tätiger besonders sichtbar: schlecht bezahlte oder unbezahlte Arbeit, unsichere Zukunft, fehlende Planbarkeit.
Zwischennutzungen machen diese Unsicherheiten spürbar: Ihre temporäre Natur bedeutet, dass Nutzer*innen oft ohne langfristige Perspektive agieren – immer mit dem drohenden Ende im Hinterkopf. Soziokulturelle Initiativen, die auf Aufbau, Beziehungsarbeit und Sichtbarkeit angewiesen sind, können sich unter diesen Bedingungen kaum nachhaltig verankern. Es braucht Zeit, bis ein Ort angenommen wird, bis ein Publikum entsteht, bis ein Programm Wirkung entfaltet – Zeit, die oft nicht gegeben ist. Was nach Offenheit klingt, kann zur strukturellen Erschöpfung führen: ständige Umzüge, ständige Neuanfänge, ständige Suche nach dem nächsten Ort. Es zeigt sich: Zwischennutzung kann Orte reaktivieren, beleben und sozial öffnen – aber was bringt das, wenn sie alle paar Jahre wieder niedergemäht wird? Wir möchten dazu anregen, Zwischennutzung und ihr Potenzial radikal weiterzudenken – und diesen Prozess mit der Alten WU zu beginnen.
Die Potenziale der Zwischennutzung für die langfristige Entwicklung nutzen
Die langfristig vermietete Fläche, die von der WEST verwaltet wird, umfasst 3.600 m².10 Weitere 5.600 m² im Gebäude werden für Veranstaltungen und Filmdrehs genutzt und vermietet.11 Diese 9.200 m2 entsprechen etwa sechs Prozent der geplanten 150.000 m2 Nutzfläche. Wenn wir vom Wert der Zwischennutzung sprechen, heißt das nicht, dass alles genauso bleiben soll, wie es jetzt ist. Die aktuellen Nutzer*innen machen auf fantastische Weise Möglichkeiten sichtbar – oft auf ganz andere Art, als es Planer*innen je tun würden oder könnten. Bei der Alten WU handelt es sich um eine über Jahre gewachsene Struktur, die erhebliche Potenziale für eine Weiterentwicklung in sich trägt. Nutzungsdurchmischung ist ein zentraler Faktor für Nachhaltigkeit, Flexibilität und Resilienz städtischer Räume.12 Die Vergangenheit der Alten WU selbst hat gezeigt, dass eine monofunktionale Nutzung eines so großen Areals dies nicht leisten kann.
Trotz dieser Erkenntnis sieht die derzeitige Planung erneut einen reinen Bildungscampus vor – diesmal dafür den größten Österreichs.13 Aber genau deshalb sollte sich das „größte universitäre Bauvorhaben der kommenden Dekaden“14 nicht mit Schlagwörtern wie Kreislaufwirtschaft oder Grünraum zufriedenstellen, sondern echte innovative, zukunftsweisende Entwicklungsstrategien verfolgen. Denn Bildung findet nicht nur an Universitäten statt. Dieses Projekt könnte ein bedeutender Schritt in Richtung einer echten Integration von Kultur in öffentliche Entwicklungsprojekte sein. Die aktuellen Nutzungen sind nicht nur mit dem Erhalt des Bestands vereinbar, sondern auch mit der geplanten Nutzung und einer zukunftsfähigen Entwicklung des gesamten Areals.
Die entscheidende Frage lautet: Wie können diese bestehenden vielfältigen Nutzungen in die Planung integriert werden, damit der Raum für alle erhalten bleibt? Universitäten stehen für über ein Drittel des Jahres praktisch leer. Die Alte WU hat mehrfach gezeigt, dass sie, wie ein Schwamm, mehrere Nutzungen gleichzeitig aufnehmen kann. Ein Weiterdenken dieser erfolgreichen Zwischennutzung bedeutet auch, die aktuellen Nutzer*innen nicht als Lückenfüller zu sehen, sondern als integralen Bestandteil der Zukunft dieses Ortes. Diese Situation bietet eine einmalige Gelegenheit: Die Alte WU kann und soll neu entwickelt werden – nicht im luftleeren Raum, sondern ausgehend vom real existierenden Bestand und den lebendigen Nutzungsmöglichkeiten, die dieser Ort bereits hervorgebracht hat.
1 Stadt Wien: Campus Althangrund – Neuer topmoderner Bildungscampus, www.wien.gv.at/stadtplanung/campus-althangrund.
2 Stadt Wien: 9., Campus Althangrund – Rahmenvorgaben für einen zukunftsfitten Bildungscampus, www.wien.gv.at/pdf/ma21/stek-campus-althangrund.pdf.
3 Kunstuni und Parlament: Wer zieht in die alte WU?, in: Die Presse v. 20.10.2013, www.diepresse.com/1451866/kunstuni-und-parlament-wer-zieht-in-die-alte-wu.
4 KREATIVE RÄUME WIEN: WEST SPACE alte WU, www.kreativeraeumewien.at/projekte/west-space-alte-wu/.
5 WEST: WEST/WU, www.west-space.at/westwu.
6 joyjoy studio: „RAUM“ Pop-up Café, joyjoy.studio/ux-portfolio/raum-coffee-2/.
7 4lthangrund – Kulturzentrum für alle! gewinnt Preis der freien Szene Wiens 2024, in: Music Austria v. 11.10.2024, www.musicaustria.at/4lthangrund-kulturzentrum-fuer-alle-gewinnt-preis-der-freien-szene-wiens-2024/.
8 BIG – Bundesimmobiliengesellschaft: Campus Althangrund, www.big.at/campus-althangrund.
9 Thomas Honeck: Zwischennutzung als soziale Innovation. Von alternativen Lebensentwürfen zu Verfahren der räumlichen Planung, in: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 3.2015: Innovationen in der räumlichen Planung, S. 219–231, d-nb.info/1197923608/34#page=60.
10 Siehe Fußnote 4.
11 Siehe Fußnote 5.
12 Deutsches Institut für Urbanistik: Nutzungsvielfalt bringt frischen Wind in die Innenstädte, difu.de/presse/pressemitteilungen/2022-10-06/nutzungsvielfalt-bringt-frischen-wind-in-die-innenstaedte?utm_source=chatgpt.com (= Pressemitteilung v. 6.10.2022).
13 Siehe Fußnote 1.
14 Ebenda.